Warum eine saubere Badewanne keine dreckige Kneipe ersetzen kann
Ein Gastbeitrag von Manus Dexter
Heute war ich sechseinhalb Stunden in einer Videokonferenz und je eine Stunde davor und danach, plus gestern drei und vorgestern zwei zum Vorbereiten. Oben Anzug, unten Norwegersocken und Hotelpuschen.
Ich bin schon ganz geübt. In der Menüleiste weiß ich inzwischen, wo Ton und Bild ausgehen und welche Tasse für Bier und welche für Tee ist, das sitzt auch schon ganz gut. Ich kann Zigaretten für die Impulsvorträge der anderen à la minute und unsichtbar mis-en-placen. Ich habe Gymnastikband-Übungen für die untere Körperhälfte erfunden, bei denen mein Gesicht unauffällig bleibt, nicht gerade Hula-Hoop, aber besser als das ewige Stillsitzen. Ich kann gut labern und eckige Augen kriegen trotz vier verschiedener Lesebrillen. Es hat Spaß gemacht! Das ist nicht mal gelogen. Es war inspirierend, ohne Frage. Es war zweifelsfrei schön, Sie alle zu sehen! Wenn auch nur virtuell. Wenn auch sehr oft „in diesen Zeiten“ gesagt wurde, vermutlich am häufigsten von mir.
Am Ende denke ich: Gute Performance, Mann. Auch von denen, die jetzt noch erschöpfter als ich sind. Wir haben Ideen gebündelt, Grundsteine gelegt, mal offen alles rausgehauen und sogar ein wenig provoziert und hundert kluge und richtungsweisende Denkansätze aufgesogen wie Schwämme. Wir sind voll von Ideen und Zukunftsvisionen.
Doch kaum ist das Meeting vorbei, das Tageslicht auch, wandeln wir uns vom Schwamm zum Lappen. Vollgesogen mit Gutem, das sich aber nicht mehr rausdrängt, denn wir wollen nur noch Fernsehen, trotz der eckigen Augen. Andere Bilder, langsamere Bilder, nicht bildorientierte Szenen, das wäre jetzt was. Ach, gäbe es doch die Eckkneipe noch! Bisschen zu laute Musik, kontemplativ ins Rückbüffet träumen, die bunten Flaschen einfach nur betrachten, die Hintergrunddialoge der anderen, meist bekannte Stimmen einfach so vorüberrinnen lassen. Irgendwann, wenn man Lust hat und das zweite Bier da angekommen ist, wo es soll, ganz sachte die Weiche stellen fürs Inhalte zulassen. Auch kurz mal was sagen – in dem Wissen, dass man gleich bedenkenlos wieder schweigen kann, weil hier alle wissen, dass man ein komischer Vogel ist. Es riecht so wie es riecht und die Gesichter sind meistens die gleichen. Die Person, die mir Getränke macht, weiß, wann, mit wieviel Schaum, süß oder weniger süß und aus welchem Glas ich es will. Sie weiß gleichzeitig mehr und weniger über mich selbst als ich selbst. Umgekehrt muss es noch schlimmer sein. Es ist eine intime Nicht-Bekanntschaft. Wir kennen uns sehr und gar nicht und wenn wir mal zu zweit waren, hatte das für uns rein gesundheitliche Gründe. Es ist Liebe und nichts. Ich liebe diese Illusion. Mehr noch als Hühnerfrikassée. In der Kneipe sein ist, wie wenn die Oma den Schlafanzug auf dem Ofen vorgewärmt hat und man sauber ins Bett gegangen ist, frei von vertüdelten Gedanken – einfach nur schlafen. Ich sehne mich nach dieser seelischen Blitzeblankheit, die ich früher in dreckigen Kneipen erlangen konnte. Die meisten waren ja sogar sauber, aber das meine ich mit dreckig nicht. Ich meine, ich gehe nach einem dreckigen Tag in die Wanne und plötzlich schwimmen oben Basilikumblätter drauf – keiner weiß, wo die herkommen. Ich schnipse sie einfach weg, über den Wannenrand. Und die ganzen anderen Ränder, außer denen, wo schon Blut kommt, die gehen auch wieder sauber. Innerlich.
@kulinardelikt
Dexter, ich glaube, Sie haben was getrunken. Erhalten Sie sich das Basilikum!
Ein Text, wie man ihn brauchen kann „in diesen Zeiten“.