Lange bevor es Foodblogs und Koch-Tutorials gab, hatte ich ein Asien-Kochbuch. Ein Rezept faszinierte mich am Meisten: Drunken Prawns. Man nimmt lebende Garnelen und übergießt sie mit Reiswein. Sie fangen aufgeregt an zu zappeln, sodass man schnell einen Deckel auf das Gefäß gibt – auf dem Foto war es ein gläserner Kochtopf, in dem es unscharf aber anschaulich plantschte. Wie es in dem Buch weiterging, weiß ich nicht. Ich vermute aber, dass die Garnelen, sobald sie so betrunken sind, dass sie schlafen, in kochendes Wasser geworfen wurden. Tausendmal habe ich davon erzählt, es aber nie ausprobiert. Zumindest bis zum letzten Jahreswechsel. Denn da war ich in Hong Kong, der Stadt, in der ich eigentlich leben und arbeiten wollte, bevor ich mich an Weserkilometer 21 verlaufen haben muss. Hier ein Bericht:
Vor dem Marktbesuch, denn ab da muss alles schnell gehen, recherchiere ich sicherheitshalber noch mal im Netz, wie das wirklich geht. Ob Reiswein ausreicht, um genug betrunken zu machen oder ob man besser gleich Báijiǔ nimmt. Möglich ist beides. Die Japaner, bei denen Drunken Prawns bildhaft Dancing Shrimps heißen, nehmen Hochprozentiges und – oh – in der kantonesischen Küche wird gar nicht mehr gegart, sondern lebend der Kopf abgebissen und dabei viel gelacht, während die Tiere über den Esstisch hüpfen. Eine weitere klassische Variante gibt es, nämlich die Tiere lebend zu flambieren und dann in eine Sauce zu geben. Ob es schöner ist, betrunken zu sterben, als nüchtern? Ich glaube schon. Aber ich bin auch gern ein bisschen betrunken. Für eine Garnele dürfte das ihr erstes Mal sein – ob das schön ist? Noch eine Variante finde ich in einem koreanischen Blog: hier gibt man sie schlaftrunken in einen Kräutersud und setzt auf ihren Nachdurst beim Erwachen, mit dem sie alle Aromen schon vor dem Garen aufnehmen und nicht nur besonders süß, entspannt und zart schmecken, sondern auch schon mit Ingwer und Koriandergrün parfümiert sind.
Wir entscheiden uns für die Beginner-Variante, kaufen eine Tüte lebender Garnelen bei einer alten Dame auf dem Sai Ying Pun Market. Zurück zu Hause gießen wir das Wasser ab und stellen erfreut fest, dass alle noch gesund und munter sind. Es ist schon komisch, so lebende Tiere in der Küche. Wir überlegen ob sie sterben werden, wenn wir noch eine rauchen gehen auf den Schreck. Bevor es noch komischer wird, machen wir sie besser gleich betrunken und stellen uns vor, es ginge ihnen dann besser. Aus Solidarität probiere ich den Reiswein und beschließe für mich, dass es sehr, sehr schnell gehen müsse, wenn ich davon betrunken werden wollen würde. Ich spucke aus und gieße gleich die halbe Flasche in den Topf. Eine lange Sekunde lang passiert gar nichts, dann ist Disco. Eine springt mir ins Gesicht und entwischt dem Deckel. Wir entschuldigen uns innerlich und sammeln sie mit Chopsticks wieder ein. Wir horchen am Deckel. Vielleicht ist es gut, dass unser Topf nicht aus Glas ist. Es klopft und zappelt. „Was, wenn sie nicht einschlafen“, fragt der Mann, mit dem ich in einem Bett schlafe. Aufgeregt gehen wir auf den Balkon und reden beim Frühstücksbier gegen den Reisweingeschmack darüber, ob es Karma-Minuspunkte gibt, wenn man sowas macht. Darüber, wie es unseren Garnelen wohl so geht im Vollrausch. Ob sie kotzen können oder eine Ahnung haben, was ihnen gerade geschieht? Können sie uns sehen? So über Wasser? Sehen sie uns als riesige, monströse Auch-Lebewesen? Oder als höhere Macht, so wie wir einen Vulkanausbruch oder Tsunami? Was ist mit den ganzen toten frischen Garnelen, die wir in unserem Leben schon gegessen haben? Sind die alle nüchtern erstickt? Ist das so üblich? Ist das nett? Welche Bedeutung hat das Wort Tierwohl in einer Welt, in der es auch den Ausdruck artgerechte Tötung gibt? Betrachten wir das mal von der anderen Seite.
Du bist jetzt das Tier und kannst Dich bewusst zwischen folgenden Möglichkeiten entscheiden:
- In einer Gesellschaft aufwachsen, die in Wirklichkeit eine Zuchtfarm ist, ohne es zu wissen
- Eine Milchkuh auf der Alm, die alle Kinder lila malen
- Eine Auster, die blind ist und nie Sex hat (dafür Perlen) und lebend bei Kerzenschein von einer schönen Frau verdaut werden
- In Freiheit leben und unangekündigt von jemandem erschossen werden, der das kann
- Ein Zuchtbulle sein und tagtäglich viel schönes Sperma produzieren ohne jemals zu erfahren, was dabei rauskommt
- Ein Lasttier sein, ein Ackergaul oder ein Dressurpferd
- Eine Ente im Bürgerpark
- Ein Zirkuslöwe
- Ein Schoßhündchen mit einem adretten, treuen Herrn mit Burberry-Schal
- Ein Singvogel im Käfig oder ein Goldfisch, nur da, um Schönheit zu verbreiten
- Eine pommersche Hafermastgans mit gleich vier Lebensinhalten: drei mal lebendig gerupft für weiche Daunen und dann der beste Weihnachtsbraten
- Ein Fabeltier, dass es nur in der Fantasie gibt*.
Und dieses Tier, das Du bist, glaubt es an Gott oder Götter, an Karma oder etwas anderes, das man nicht riechen kann? An die Existenz des Todes, einen Sinn darin und ein Leben danach? Ich denke, alle Lebewesen werden ihr Leben so wahrnehmen, dass es eben ihr Leben ist. Mit Höhen und Tiefen, oftmals eine ganzheitliche Quälerei, lustigen und schönen Momenten, Verliebtsein sogar oder zumindest ausgeschlafen. Hunger und Frieren gehören wohl auch dazu, einsam sein oder eingepfercht in etwas, das einem nicht richtig vorkommt… und irgendwann ist es dann vorbei.
Bis dahin sollte man tanzen.
Unsere Drunken Prawns haben natürlich fantastisch geschmeckt. Und Karma-Punkte? Eher positive, so fühlt es sich an. Sagt man doch ganz von selbst Danke zu diesen Lebewesen, aus denen wir irgendwie bestehen, nachdem wir sie verspeist haben. Körperlich und vielleicht auch geistig?
Für 2 Personen
1 Kätti lebende Garnelen (ca 600g)
½ Flasche Reiswein
4 Knoblauchzehen, ebensoviel Galgant, fein gehackt
2 Schalotten und zwei kleine scharfe Chili, fein gehackt
1-2 Stangen Zitronengras, in halbe Ringe
Saft von 3 Orangen und einer Zitrone
Fischsauce, Sojasauce, Sesamöl
Meersalz, frisch gemahlenen Pfeffer
6 Limetten, zum Servieren in Spalten
1 dickes Bund Brunnenkresse, grob gezupft, die kleineren Stiele sind essbar
1 kleine vollreife Papaya, grob gewürfelt
Aus Papaya und Brunnenkresse einen deftigen Frühstücks-Obstsalat machen. Viel Pfeffer, Knoblauch, Limette, Sesamöl, Meersalz.
Die Garnelen wie oben betrunken machen und in der Zeit, bis sie schlafen einen Sud aus den Gewürzen und Zitrus-Säften in einer großen Pfanne einkochen. Sie muss wirklich heiß sein, wenn die schlafenden Garnelen hineinkommen, damit sie tot sind, bevor sie aufwachen. Danke.
*Es ist vegan und besteht aus Tofu, für den tausende unschuldiger Bäume sterben mussten. Aber das ist eine andere Karma-Geschichte.