Wie mein essgestörter Vater mir Essen erklärte – eine wahre Geschichte
Mein Vater ist 1937 in Pommern auf die Welt gekommen und hat einen viel zu großen Teil seiner Kindheit auf der Flucht und in Lagern verbracht. Bis heute sagt er, er habe keinen Schaden davon genommen und das ist gut so. Außer vielleicht dem, den ich als junger Mensch für eine Ess-Störung hielt. Sie besteht nicht darin, dass er, wie viele andere seines Alters, keine Steckrüben mag, sondern darin, dass er nichts mag, was durcheinander ist und nichts, das nicht von hier ist.
So gab es an unserem Esstisch niemals Aufläufe und niemals Nudeln, denn „Wir sind hier in Deutschland, da gibt es Kartoffeln“, war sein Argument. Als Jugendliche war ich davon gar nicht begeistert, weil ich auch mal Pizza und Ravioli essen wollte wie die anderen, auch mal Zischwasser trinken, wenn kein Besuch dagewesen war und welches in der Flasche gelassen hatte. Noch heute ist es für mich die größte Süßigkeit, eine eigene Flasche Mineralwasser aufzudrehen. Dabei geht es gar nicht um den Inhalt – das Geräusch genügt mir schon.
Auch meine Mutter, die wie ich ein sehr kreativer Mensch ist, hatte es nicht immer leicht mit einem Mann, der jedes Gewürz außer Salz und Pfeffer ablehnt und auch nicht vom guten Porzellan essen kann, das einen breiten Rand hat, wodurch der Teller immer nur halbvoll aussieht. Auf der anderen Seite ist mein Vater, der Jäger ist und sein Lagerfeuer jedem Sternerestaurant vorzieht, viel gereist in der Welt. Wenn er zurückkam roch er komisch, aber dafür war er voller Geschichten. Er hat uns allen die Bilder seiner Abenteuer gezeigt und natürlich auch erzählt, was es dort zu essen gab. Rohe, noch körperwarme Robbenleber bei den Eskimos, Tee mit Ei und Butter bei den Sherpas, im Feuerloch gegarte Erdhörnchen, Affen mit Fell gegrillt oder Blut-Milchmixturen in afrikanischen Landschaften. Ich durfte auch schon als Kind mit zur Jagd und zum Fischen, habe daher früh gelernt, wie man ein Tier aufbricht und zerlegt, wie lang der Darm einer Ente ist und was es für ein Geräusch macht, wenn man die Augen aus dem abgekochten Rehbockschädel ploppt. Das alles war bei uns ganz normal, nur Nudeln gab es nicht.

Spätestens als ich Köchin wurde habe ich verstanden, dass mein Vater Essengehen nicht versteht. Meine Eltern haben mich damals in meinem ersten eigenen Restaurant besucht und wir haben das Menü besprochen, das es gleich geben sollte. Als ich aufstand, um in die Küche zu gehen, sagte mein Vater: „Du kannst doch jetzt nicht schon wieder aufstehen!“ Natürlich bin ich dennoch aufgestanden, nachdem ich schon halb entmutigt versucht hatte zu erklären, was für ein Beruf das sei, dessen zugehörige Uniform ich trug. Du kannst Dir vorstellen, wie es weitergegangen ist. Fleisch nicht durch, Fisch nicht durch, Teller nur halb voll und warum dauert das so lange. Ein für uns alle ein eher ernüchterndes Ereignis – dafür, dass es doch ein großer Moment werden sollte.
Aber ich hatte verstanden. So lud ich ihn beim nächsten Treffen „„Was stimmt denn nicht mit Dir???““ weiterlesen